WALDESLUST DEUTSCH
(Bosch en Lucht)
Waldeslust erzählt nebeneinander die Geschichten zweier Gruppen: die von behinderten Kinder in einem Heim (Waldeslust) und die einer Handvoll Pauschalltouristen im spanischen Urlaub.
Mit: o.a. Joop Admiraal, Dorijn Curvers, Arjan Ederveen, Cas Enklaar, Frank Groothof, Rene Groothof, Marja Kok, Hans Man in ’t Veld, Daria Mohr, Kees Prins, Rens Royaards, Shireen Strooker, Herman Vinck.
Musik: Rob Boonzajer en Paul Prenen.
Sendet in Deutschland 19 juli 1981.
(Born: Het Werkteater/WDR-Waldeslust -1981)
1uur 41min.
DER SPIEGEL 30/1981
20.07.1981
Blinde sehen, Lahme gehen
Von Canaris, Volker
Volker Canaris über das Amsterdamer “Werktheater” Volker Canaris, 39, jahrelanger Fernseh-Dramaturg des WDR, ist Mitdirektor des Kölner Schauspiels. “Waldeslust” war am Sonntag in den Dritten Programmen der Nordkette (plus HR) zu sehen.
Ungewöhnliches geschah: Am Ende der Vorstellung von “Waldeslust” klatschten auch die Kameraleute des Fernsehens begeistert Beifall. Zwei Stunden lang hatten sie in der Kölner Musikhochschule beim Festival “Theater der Welt 81” die Aufführung des Amsterdamer Werktheaters aufgezeichnet.
Nun, da die Kameras abgeschaltet waren, da sie eigentlich zur Routine, zur Wartung ihrer Geräte hätten zurückkehren können, zeigten auch die Medienprofis, daß sie vom Spiel der Amsterdamer trotz des Filters von Sucher und Objektiv stark beeindruckt waren. Und sie standen mit ihrer Empfindung mitten in einer Menge, der man — wie ganz selten im Theater -anmerkte, daß sie diese Aufführung nicht nur liebte, sondern daß sie sie begriff als etwas, das nicht überflüssiger, sondern notwendiger Luxus war.
“Bosch en Lucht” erzählt nebeneinander die Geschichten zweier Gruppen: die von behinderten Kindern in einem Heim (“Waldeslust”) und die einer Handvoll Pauschaltouristen im spanischen Urlaub.
Was die Touristen erleben, kennt man so, stellt man sich so vor, die Bilder sind vertraut: Hektik am Flughafen, Sorge um verlorene Koffer, plappernde Reiseleiterin, nicht erfüllte Einzelzimmerwünsche, “Meeresblick” auf Betonwüsten, niveageöltes Grillen am Strand, “Begegnung mit Land und Leuten” nach Tarif und Fahrplan, Quengeleien, Eifersüchteleien, Anbandeleien innerhalb der Gruppe, sentimental-weinseliges Abschiednehmen bei plärrender Musik, Verabredung zum Diaabend zu Hause.
Bei den Szenen, die unter den Behinderten spielen, werden die Zuschauer dagegen in eine Welt geführt, die ihnen fremd ist, die durch unsere Umgangsformen ausgegliedert ist in den “Randbereich”, die mit Tabus und mit Berührungsängsten belegt ist.
Ein blindes Mädchen lernt Radfahren. Ein Spastiker wird aus dem Rollstuhl gehoben und geht, gestützt vom Helfer, zehn Schritte. Ein geistig Behinderter soll begreifen, daß eins plus eins zwei ist. Die Kinder kommen vom Schwimmen und geraten sich über die Kleidungsstücke in die Haare. Die gemeinsame Spielstunde mündet in eine wüste Schlägerei. Ein Mädchen quält immer dasselbe Geräusch aus einem Akkordeon heraus. Die Kinder singen und spielen zum Abschluß des Jahres den Angehörigen und Besuchern vor, was sie gelernt haben.
Einfachste Situationen also. Der Zauber der Aufführung speist sich aus vier Elementen: Einfachheit der Mittel, Genauigkeit der inhaltlichen Arbeit, Menschlichkeit der Haltung und — Grazie.
Im Umfeld der hochsubventionierten, hochspezialisierten, hochstilisierten S.136 bundesdeutschen Theaterarbeit ist das eine verblüffende Erfahrung: wie wirkungsvoll mit einfachen, allerdings sehr genau gedachten Mitteln Theater szenisch erzählt werden kann.
Der Einfachheit korrespondiert die Genauigkeit. Selbst wenn man nicht wüßte, wie die Gruppe arbeitet: man spürt, vor allem in den Behinderten-Szenen, die Authentizität jedes noch so kleinen Elementes der erzählten Verhaltensweisen. Dahinter steckt monatelange Recherchenarbeit, Erfahrung aus dem Umgang mit den Betroffenen, Rückkoppelung durch Publikumsdiskussionen, an Hand derer sich Text und Ablauf des Abends immer wieder verändern.
Darin zeigt sich auch das Selbstbewußtsein einer Gruppe, die künstlerisch autonom ihre eigenen Projekte entwickelt und produziert; die aus dem inhaltlichen, gesellschaftlich-aufklärerischen Impuls ihre mobile Spielweise ebenso ableitet wie ihre nicht spezialisierte, nicht arbeitsteilige Organisationsform der Selbstverwaltung.
Auf dieser Basis sind seit 1972 immer wieder Aufführungen entstanden, die sich mit realen oder funktionalen Randgruppen und Minderheiten beschäftigen, Theaterabende über Frauen und Alte, Gefangene, Sterbende.
Das dritte Element: Menschlichkeit. Beides ist in dieser Aufführung vermieden — Karikieren und Bloßstellen der Negativfiguren (Touristen), Heroisierung und Sentimentalisierung der Helden (Behinderte). Die These dieses (Auch-) Lehrstückes ist nicht: die Normalen sind die eigentlich Behinderten, die Behinderten die eigentlichen Menschlichen.
“Waldeslust” erzählt viel differenzierter: wie Menschen durch Verhaltensnormen konditioniert werden und sich entweder diesen anpassen, konform verhalten — oder ihre “Abnormität” als Eigenart leben und gegen die Normen wenden, diese relativierend und in Frage stellend.
Das Humane solcher Theaterarbeit gegenüber dem Zuschauer besteht darin, daß er lachen darf: ein wiedererkennendes, allerdings nie überhebliches Aha-Gelächter, wenn in den Touristenszenen die Wirklichkeit bis zur Kenntlichkeit veräußerlicht wird.
Er darf auch lachen über die Behinderten, wenn bei aller Not und scheinbaren Ausweglosigkeit ihrer Situation plötzlich der Knoten zerhauen wird: indem durch konsequente, naive Anwendung der Normstrukturen durch die Behinderten die Unlogik der Norm, die Logik der Verweigerung sichtbar wird.
Das Erstaunliche an diesem Teil der Aufführung ist: Sie nimmt den Zuschauer quasi an der Hand, um mit ihm emotional in die Behindertensituation einzutreten, sie macht behutsam bekannt mit dem Ungewohnten, erspart weder Betroffenheit, Erschütterung, Erschrecken noch momentanen Ekel — aber sie entläßt ihn immer wieder auch in eine wundersame Heiterkeit.
Diese Heiterkeit ist nicht versöhnlerisch, als sentimentale Sauce, über die Widersprüche der Realität gekleistert; sie speist sich vielmehr aus einer realistischen Solidarität.
Grazie — ein altmodisches Wort: Aber es trifft doch die Wirkung, die die Schauspieler aus Einfachheit, Genauigkeit und Menschlichkeit freisetzen. Das Werktheater zeigt in dieser Aufführung, wie die Lahmen gehen und die Blinden sehen lernen; poetisch ist das und zart, wie sie ihre Figuren erzählen — und in der Grundhaltung nie missionarisch, nie eifernd, immer realistisch, profan, fast plebejisch. Schon der Anfang schlägt den Ton an. Wie der Schauspieler Groothof Schröder sich blöde grinsend aus dem Publikum herausschält, sich beiläufig kaspernd die Bühne erobert, mit kindlicher Lust die Scheinwerfer und Mikrophone auf ihr Funktionieren überprüft (“Geht!”) und in einen Triumph ausbricht über einen Defekt (“Geht nicht!!!”), wie er aufs Schlagzeug haut und dann, erstaunt sich selbst lauschend, ins Spiel gerät — da ist plötzlich der ganze theatralische Figurenkosmos da, lustige Person, Clown, Narr; und auch die beiden Spannungspole werden physisch sichtbar: daß diese Spielfigur beides zugleich ist, Idiot und Weiser.
Andere Momente des Abends haben dieselbe Grazie. Wenn das blinde Mädchen lernt, auf einem Fahrrad im Kreis zu fahren, dann wird ihr ganzer Körper erst ins Leere gerichteter, dann staunender, schließlich gelöster “Blick”. Mit großer Spannung, aus artistischer Virtuosität und psychischer Kraft gespeist, kippt der Gelähmte seinen Rollstuhl auf die Hinterräder und tanzt in ihm, balancierend und sich drehend im Takt der Musik.
Ein Rollstuhl-Mädchen und der Spastiker, dem dauernd der Speichel aus dem Mund läuft, haben eine äußerst delikate Liebesszene — und gerade der Austausch des Speichels (also der mit Ekel besetzte “Defekt”) wird zum zärtlichen, erotischen Kommunikations-Augenblick der beiden Menschen.
Schließlich: Der Clown der Gruppe soll mit allerlei pädagogischen Tricks dazu gebracht werden zu rechnen — er zieht sich plötzlich aus dem Ritual des Ernstes zurück, hebt eine Fluse vom Boden auf, bläst sie in die Luft, fängt sie mit dem Mund auf — und grinst triumphierend.
Der Normenterror wird in solchen Szenen zerbrochen, wird fröhlich-anarchisch und absurdum geführt. Es gibt Szenen, vor allem Gruppenszenen, in denen man sehen kann, wie die Kinder sehr, sehr wohl die Mechanismen von Dressur und Hackordnung, von Belohnung und Bestrafung punktuell übernehmen und mit Tücke, ja mit momentaner Gewalttätigkeit aufeinander anwenden. Und es wird auch nicht verschwiegen, daß es lästig sein kann, eine Last, mit Behinderten umzugehen: Wie der Gruppenclown dem Pfleger immer wieder auf den Buckel, in den Nacken springt und sich tragen läßt, ist dafür ein deutliches, spielerisch-konkretes Bild.
Eine Aufführung, die ihre “Sensation” aus der genauen Beobachtung alltäglicher Wirklichkeit gewinnt. Ein ungewöhnliches Ereignis. Ein lehrreiches Beispiel für unsere Theater.